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Das Jellinek-Schema


15.    Änderung des Trinksystems

Zur Begrenzung und Vermeidung der unerwünschten Folgen des
Kontrollverlustes entwickelt der Alkoholiker ein Trinksystem mit von ihm
festgelegten Regeln. So versucht er z.B. nicht vor einer bestimmten Tageszeit mit dem Trinken zu beginnen, nur noch am Wochen­ende, nur noch an
bestimmten Orten oder nur noch eine bestimmte Art (z.B. nur noch Bier) und Menge Alkohols zu trinken oder ähnliches.
Zu diesem Punkt gehört für den Alkoholiker auch die zusätzliche Einnahme
stimmungsverändernder Medikamente, um den Alkoholkonsum einzuschränken. Der Alkoholiker verspricht sich davon, bewußt oder unbewußt, die verlorene
Kontrolle über die Alkoholmenge zurückgewinnen zu können.


16.    Fallenlassen von Freunden

Da der Alkoholiker befürchtet, daß seine soziale Umwelt die Veränderung in seinem Verhalten, insbesondere seine Unfähigkeit, sein Trinken zu kontrollieren, bemerkt, zieht er sich zunehmend von seiner Umwelt zurück. Er versucht dabei, bewußt oder unbewußt der erwarteten Kritik von Freunden und Bekannten auszuweichen, was oft den Anfang eines umfassenden Prozesses sozialer Isolation bedeutet.


17.    Konsequenzen am Arbeitsplatz

Der inzwischen gewachsene Drang zum Weitertrinken wirkt sich nunmehr auf das Verhalten am Arbeitsplatz aus. Oft merkt der Alkoholiker selbst ein Nachlassen seiner Arbeitsmotivation, seiner Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Kollegen und Vorgesetzten fällt er nicht selten durch Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit, häufiges „Krankfeiern", unangemessenes, reizbares Verhalten oder mit einer „Alkoholfahne" auf. In diesem Zusammenhang kann es auch zu Abmahnungen, anderen arbeitsrechtlichen oder disziplinarischen Konsequenzen oder zur Kündigung kommen. Manchmal übernimmt er auch selbst die Initiative und entzieht sich einer derartigen Konfrontation, indem er selbst seinen Arbeitsplatz kündigt.


18.    Trinken ersetzt soziale Kontakte

Inzwischen hat das Trinken des Alkoholikers den Stellenwert eines universellen Hilfs- und Heilmittels erlangt. Dies führt dazu, daß der Alkoholiker z.B. in schwierigen Lebenssituationen, bei Problemen oder Konflikten nicht mehr um soziale Unterstützung nachsucht, sondern eher dazu geneigt ist, auch hier den Alkohol als Medizin und Seelentröster einzusetzen.
Ebenso neigt er dazu, Konfliktsituationen nicht mehr klärend anzugehen, sondern seinen Ärger mit Alkohol hinunter zu spülen. Mit oben beschriebenen Verhaltensweisen setzt sich beim Alkoholiker der Trend fort, sich sozial durch Rückzug in die eigene Problem- und Trinkwelt immer mehr zu isolieren.


19.    Trinken wird wichtiger als Interessen und Pflichten

Hatte der Alkoholiker bislang sein Trinken überwiegend in geeigneten Lücken (Pausen) seines normalen Tagesablaufes unterzubringen vermocht, so führt sein gesteigertes Trinkbedürfnis nunmehr dazu, seinen Tagesablauf immer mehr zu verändern: Der Tagesablauf wird den Trinkbedürfnissen angepasst.
Je nach individuellen Möglichkeiten, die berufliche und persönliche Tagesstruktur selbst zu gestalten, zeigt sich ein mehr oder weniger an den Trinkbedürfnissen ausgerichteter Tagesablauf.
Dabei versucht der Alkoholiker jedoch nach wie vor, seinen beruflichen und familiären Verpflichtungen Genüge zu tun, vernachlässigt jedoch oft bereits deutlich rein persönliche Vorlieben und Interessen (z.B. Hobbys, die sich nicht mit dem Trinken vereinbaren lassen). Dabei wird für den Betroffenen häufig eine zunehmende Gleichgültigkeit und Energielosigkeit spürbar, die dazu führt, daß er sich trotz z.B. ausgeprägter sportlicher oder kultureller Vorlieben nicht mehr zu derartigen Unternehmungen aufrafft.
Dieses Verhalten führt zu einer Verstärkung seiner Unzufriedenheitsgefühle, wobei sich nicht selten auch das persönliche Interesse an der Arbeit massiv reduziert und die berufliche Tätigkeit nur noch ausgeübt wird, um vorgegebene Leistungsanforderungen zu erfüllen (Kritikvermeidung). 


20.    Trinken wird wichtiger, als die Menschen, die mir nahestehen

Durch die massiv zunehmende Kritik, auch der engeren Vertrauenspersonen (Partner, Familie, enge Freunde) an seinem Trinkverhalten, gerät der Alkoholiker unter einen erheblichen Druck. Während er einerseits bestrebt ist, seine engen Vertrauenspersonen nicht noch weiter zu enttäuschen, erlebt er andererseits immer deutlicher, daß es ihm nicht gelingt, sein Trinken unter Kontrolle zu halten. Trotz ernsthaftester Vorsätze und Beteuerungen stößt er diese Menschen durch sein Weitertrinken immer wieder vor den Kopf. Er entzieht sich dadurch oft gemeinschaftlichen Unternehmungen oder beschwört Streitereien herauf, die er dann als Alibi benutzt, um sich zurückziehen und weiter trinken zu können. Dieses Verhalten ist beim Alkoholiker somit nicht selten auch mit Schuldzuweisungen an die nächsten Angehörigen verbunden.
Die Angehörigen gewinnen dabei oft den Eindruck, daß sie jede Einflußmöglichkeit auf den Alkoholiker verloren haben und ihm wesentlich weniger bedeuten als der Alkohol.


21.          Auffallendes Selbstmitleid

Der Alkoholiker bemerkt, daß er sich der von ihm als unangemessen empfundenen Kritik seiner Umwelt an seinem Trinkverhalten trotz seiner ernstgemeinten, aber meist erfolglosen Bemühungen letztlich nicht zu entziehen vermag. Oft fühlt  er sich dabei von allen unverstanden und abgelehnt. Er neigt dazu, sich resignierend einem auffallenden Selbstmitleid zu überlassen, das ihm nicht selten als Alibi für erneutes Trinken dient.


22.          Gedankliche oder tatsächliche Flucht

Selbstmitleid, zugespitzter sozialer Druck und die verschärfte soziale Isolation verstärken beim Alkoholiker die unbestimmte Hoffnung, unter veränderten äußeren Gegebenheiten (anderer Wohnort, andere Arbeitsstelle, andere Partner o.ä.) sein Leben und insbesondere sein Trinkverhalten wieder „in den Griff" bekommen zu können.
Er versetzt sich in seiner Phantasie in veränderte Lebensbedingungen, die für ihn günstiger erscheinen, wobei diese Gedanken sich zur „fixen Idee" verdichten können. Damit verbunden ist häufig auch die Hoffnung, sich seiner Vergangenheit und damit auch den Folgen sei­nes Trinkens entledigen zu können. Bisweilen kommt es vor, daß der Alkoholiker diese „Fluchtideen" auch konkret z. B. durch Umzug an einen anderen Ort in die Tat umsetzt.


23.          Änderungen im Familienleben

Im Zuge dieser Entwicklung treten dann auch Veränderungen im Zusammenleben der Familie und im Verhalten der einzelnen Familienmitglieder ein.
Ursache dieser Veränderung ist zunächst häufig der Versuch der Familienmitglieder, den Alkoholiker im Auge zu behalten und vor Schaden zu bewahren. Nachdem diese Versuche nichts gefruchtet haben, versuchen die Familienmitglieder im allgemeinen, dem Alkoholiker aus dem Weg zu gehen und evtl. eigene Interessen wieder aufzunehmen bzw. neue zu entwickeln.
Um zu verhindern, daß das Trinkverhalten des Alkoholikers Außenstehenden bekannt wird, ziehen sich die Familienmitglieder oft auch aus sozialen Kontakten zurück: Kinder laden keine Freunde mehr nach Hause ein oder gehen nicht mehr weg, Partner sagen Einladungen ab oder geben soziale Kontakte auf. Häufig reduzieren sich die Kontakte der Familienmitglieder auch untereinander auf das Notwendigste, wobei das Trinken nicht selten zum einzigen Gesprächs- und Streitthema wird. Kinder leiden sehr unter dieser Situation, da sie nicht begreifen, was um sie herum geschieht und den damit verbundenen Auswirkungen oft nicht gewachsen sind. Auch Trennung und Scheidung sind hier als äußerste Konsequenz dieser Veränderung zu nennen.


24.          Grundloser Unwillen

Aufgrund seiner Angst vor Kritik, Schuldgefühlen, Selbstzweifeln, unterdrückten Trinkwünschen oder Entzugsdruck lebt der Alkoholiker jetzt in einem anhaltenden Spannungszustand, der oft bei ihm einen grundlosen, d.h. nicht durch einen äußerlich ersichtlichen Anlass gerechtfertigten, Unwillen auslöst. Dies kann sich z.B. in ausgeprägter Ungeduld, auffallender Gereiztheit, raschem Aufbrausen oder extrem leichter Kränkbarkeit zeigen.

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