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( zurück ) Das Jellinek-Schema
36. Veränderungen bei der Wahl der Trinkgesellschaft
Ähnlich wie bei dem unter 32 beschriebenen Zusammenbruch individueller Wertvorstellungen kann es jetzt auch vorkommen, daß es dem Alkoholiker bei der Wahl seiner Trinkgesellschaft nur noch darauf ankommt, sich das Weitertrinken in Gesellschaft zu sichern. So kann es dazu kommen, daß er jetzt auch mit Personen trinkt, mit denen er sonst kaum Kontakt suchen oder den Kontakt sogar unbedingt vermeiden würde. Oft schließt er sich auch einem Personenkreis an, dem er sich deutlich überlegen fühlt und verfährt hier nach dem Motto: „Unter den Blinden ist der Einäugige König."
37. Zuflucht zu alkoholhaltigen Ersatzstoffen
Der Drang, weiter zu trinken, um Entzugserscheinungen zu vermeiden, kann jetzt so massiv werden, daß der Alkoholiker, falls kein anderer Alkoholvorrat zugänglich ist, zu alkoholhaltigen Ersatzstoffen greift, wie z.B. Kölnisch Wasser oder Parfüm, alkoholhaltige Medizin, Melissengeist, Spiritus, Franzbranntwein o.ä.
38. Massives Entzugssyndrom
Die unter Pkt. 35 beschriebene Entzugssymptomatik kann so ausgeprägt sein, dass es zu schweren Kreislaufstörungen, Blutdruckentgleisungen, Herzrhythmusstörungen und anderen körperlichen Beschwerden kommt, die unbedingt ärztlicher Hilfe, ggf. auch eine Krankenhauseinweisung erforderlich machen. Komplizierend kann auch ein unter Pkt. 41 erwähnter Krampfanfall hinzukommen. Kommen beim Alkoholiker weitere Entzugssymptome hinzu, wie z.B. ausgeprägte Schreckhaftigkeit, Wahnvorstellungen und/oder Halluzinationen, spricht man von einem Delir (Pkt. 45).
39. Internistische und neurologische Folgeerkrankungen
Schwerwiegende internistische oder neurologische Folgerkrankungen des Alkoholikers machen ärztliche, ambulante oder stationäre Behandlungen erforderlich. Es handelt sich hier auf internistischem Gebiet hauptsächlich um mehr oder minder fortgeschrittene Lebererkrankungen, Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse und des Verdauungssystems, massive Stoffwechsel- und Elektrolytstörungen (Fettstoffwechselstörungen, Gicht, Diabetes mellitus, Muskelkrämpfe), Bluthochdruck (Folge: Herzinfarkt und Schlaganfall), schlecht heilende Hauterkrankungen, Blutbildveränderungen (Blutarmut und Infektanfälligkeit) und Herz- und Lungenerkrankungen. Neurologischerseits kommt es infolge der chronischen Alkoholintoxikation (Vergiftung) zu Schädigungen des peripheren, d. h. motorischen und sensiblen Nervensystems, der sogenannten Polyneuropathie. Sie äußert sich im Frühstadium in Kribbeln und Taubheitsgefühl sowie Kraftminderung oder Lähmung, zunächst im Bereich der Hände und Füße. Es kommt z.B. zu brennenden Füßen (besonders nachts) und Gangunsicherheit oder Störungen im Bereich der Hände z.B. beim Greifen. Im weiteren Verlauf der Erkrankung steigt die Polyneuropathie immer mehr auf, so daß dann auch immer mehr die Arme und Beine, später der ganze Körper betroffen ist. Es kommt es zu immer stärkeren Taubheitsgefühlen, Kribbelgefühlen, Schmerzen oder Lähmungen. Gleichzeitig kommt es durch Beeinträchtigung des sog. vegetativen Nervensystems zu Völlegefühl, Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, morgendlichem Erbrechen, Herzrasen und Durchblutungsstörungen an Händen und Füßen. Auch vermehrte Schweißausbrüche sind als Zeichen des gestörten vegetativen Nervensystems zu sehen. Schädigungen des zentralen Nervensystems zeigen sich als irreparable Zerstörungen der Hirnzellen (Hirnabbau) mit der Folge von erheblichen Störungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit, sowie der Kritikfähigkeit und des Auffassungsvermögens (in ausgeprägtester Form: sog. Korsakow-Syndrom). Im Gegensatz zu vielen Organen in das Nervensystem nicht in der Lage sich zu erneuern.
40. Trinken wird Besessenheit
Wenn der Alkoholiker in diesem Krankheitsstadium mit dem Trinken beginnt, kann es ihm passieren, daß er den Drang zum Weitertrinken als so unwiderstehbar erlebt, daß er auch massivste negative Folgen in Kauf nimmt und/oder extrem unverhältnismäßige Risiken bei seinem Weitertrinken eingeht: So nimmt er z.B. trotz bereits bestehender berufliche Probleme in Kauf, gar nicht oder mit „Fahne" am Arbeitsplatz zu erscheinen oder am Arbeitsplatz weiter zu trinken. Der Drang zum Weitertrinken steuert sein gesamtes Verhalten, so daß sein Weitertrinken ohne Rücksicht auf Verluste und ohne jede Vernunft erfolgt.
41. Entzugsbedingte Krampfanfälle
Wenn der Alkoholiker seinem Körper in dieser Entwicklungsphase der Suchtkrankheit nicht ausreichend Alkohol zuführt bzw. ihm den Alkohol gänzlich entzieht, kann es zu entzugsbedingten Krampfanfällen kommen. Der Betroffene verliert - meist ohne Vorwarnung - plötzlich das Bewußtsein, stürzt und verfällt zunächst in eine heftige Verkrampfung der Muskulatur, danach in rhythmische Bewegungsabläufe. Eine Erinnerung an dieses Ereignis besteht in aller Regel nicht. Krampfanfälle können zu jeder Tageszeit - auch im Schlaf - auftreten. Solche Krampfanfälle sind durch den damit verbundenen Atemstillstand lebensbedrohlich.
42. Selbstmordgedanken bzw. -versuche
Auf der Basis häufig sehr massiver Schuldgefühle, Selbstvorwürfe und ausgeprägter Minderwertigkeitsgefühle, entwickelt sich bei dem Alkoholiker oft das nun mehr klare Bewußtsein, daß weiteres Trinken seine Lebenssituation nur noch verschlimmern kann. Gleichzeitig drängen ihn die Angst vor Entzugserscheinungen sowie die inzwischen verschärft bestehende Befürchtung, seinen Alltag ohne Alkohol nicht bewältigen zu können, dazu, weiter zu trinken. Hilflos in diesem Spannungsfeld gefangen, kann er nun in einen so verzweifelten Gemütszustand geraten, daß er ernsthaft Überlegungen anstellt, sich das Leben zu nehmen bzw. dies tatsächlich versucht.
43. Abfall der Alkoholtoleranz
Durch die massive körperliche Schädigung, insbesondere der Leber, kann es dazu kommen, daß die bis dahin stark erhöhte Alkoholtoleranz plötzlich deutlich zurückfällt. Dieser sogenannte „Toleranzknick" zeigt sich darin, daß sich der Betroffene bereits nach der Einnahme geringer Mengen Alkohols betrunken fühlt. Da diese Wirkung jedoch im allgemeinen nicht lange anhält, trinkt er jetzt in noch kürzeren Abständen noch hektischer und zwanghafter.
44. Das Erklärsystem versagt
Das unter Punkt 9 beschriebene Verhalten des Alkoholikers, rationale Erklärungen und Entschuldigungen für sein Trinkverhalten heranzuziehen, wird spätestens in der chronischen Phase durch das eigene Verhalten so häufig und unbarmherzig der Wirklichkeit gegenüber gestellt, daß auch der Betroffene selbst nicht mehr daran glauben kann. Er muß zur Kenntnis nehmen, daß sein Trinken sich weitgehend verselbständigt hat und somit zu seinem Hauptproblem geworden ist. Dieses Versagen des Erklärsystems stellt die Voraussetzung dafür dar, sich ernsthaft um Hilfe und Unterstützung zu bemühen (Selbsthilfegruppen, Beratungsstelle, Therapie).
45. Alkoholdelirium
Als massivste Entzugserscheinung kann ein Delirium tremens auftreten. Eingeleitet wird es oft mit Schlaf-, Magen-, Darmstörungen und erheblicher motorischer Unruhe, ausgeprägter Schreckhaftigkeit, grobschlägigem Händezittern, ausgeprägtem Schwitzen und Herzrasen. Es findet sich häufig Nesteln an der Bettdecke. Es kommt zum Auftreten meist optischer, selten auch akustischer Halluzinationen, d.h. es wird etwas gehört oder gesehen, was nicht existiert. Die Unruhe kann sich bis zur Getriebenheit steigern. Es bestehen wahnhafte Vorstellungen, die Kritikfähigkeit sowie die Orientierung zu Zeit, Ort und Situation sind eingeschränkt oder aufgehoben. Es besteht eine Steigerung der Beeinflussbarkeit. Das Bewußtsein ist nicht immer getrübt. Zusätzlich bestehen schwere Entgleisungen der Herz- Kreislaufsystems mit stark erhöhtem Blutdruck, hoher Herzfrequenz und Atemstörungen. Ohne Behandlung besteht die hohe Gefahr eines tödlichen Verlaufes.
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